Die goldene Brücke

Als das Telefon klingelte, fühlte sich Sven noch ganz benommen, denn er hatte fest geschlafen. Von weißen Bergen, blauklarem Himmel und Männern in roten Gewändern hatte er geträumt. Miriam war schon aus dem Haus. Verschlafen nahm er den Hörer ab. „Ja? Was ist denn los?“

Es war Bernd. „Du, Sven, rate mal, wer heute nach Carlsburg kommt?“
„Der Dalai Lama?“, kam es Sven bissig zwischen den Zähnen hervor. „Wie viel Uhr ist es eigentlich?“
„Sven, es ist halb acht. Wir arbeiten hier in der Gärtnerei schon seit halb sieben. Also aufstehen! Mit dem Dalai Lama warst du übrigens ganz nah dran.“

„Ach was?! Und was hat das mit mir zu tun?“
„Sven, unser alter Freund Andy kommt heute aus Tibet zurück. Er hat seine Ausbildung zum buddhistischen Mönch abgebrochen. Wir holen ihn um 11.00 Uhr in Frankfurt ab. Willst du mitkommen?“

„Wer ist denn noch dabei?“, fragte Sven.
„Thomas und ich halt!“
„Denkst du nicht, das reicht?“

„Hey, Sven, werd’ erst mal richtig wach. Du kannst mich ja bis acht auf meinem Handy anrufen? Tschüs.“

„Ja, tschüs!“

Sven setzte sich an den Küchentisch, gähnte und stellte Teewasser auf. Später unter der Dusche sah er seinen Traum wieder vor sich ablaufen.
Sven erinnerte sich, wie Andy vor ungefähr anderthalb Jahren ur-plötzlich abgetaucht war. Er hatte nach dem Erlebnis im Missionszelt regelmäßig an gemeinsamen Gebeten und Gesprächen teilgenommen. Aber irgendwie hatte ihm das nicht gereicht. Er wollte mehr. Von einem Tag auf den anderen war er dann einfach weg – abgetaucht.
Seinen Eltern und nahen Verwandten hatte er in einer schrift-
lichen Nachricht mitgeteilt, dass er auf dem Weg der Wahrheitssuche in die Berge Himalayas sei, sie sollten sich keine Sorgen machen und ihm alles Gute wünschen. Das kam für alle recht überraschend.
Der ist wirklich abgetaucht wie ein U-Boot, dachte Sven. Über ein Jahr lang kein Lebenszeichen. Was sich da wohl seine Eltern für Sorgen gemacht haben?

Sven hatte ein paar Tage Urlaub. Deshalb war es auch am Abend zuvor spät geworden. Er rief Bernd zurück und erklärte ihm, dass er nicht an den Flughafen mitkommen wolle, allerdings bereit wäre, als Willkommensgeste den Freundeskreis und den Heimgekehrten heute Abend zu einem kleinen Umtrunk einzuladen. Er hoffe natürlich, dass Miriam einverstanden sei. Diese Idee fand Bernd prima und hoffte, dass Andy mitkommen würde.

Miriam kehrte gegen 17.00 Uhr heim und brachte leckeren Apfelkuchen mit. Es war noch einiges vorzubereiten. Die Freunde sollten um 19.00 Uhr eintreffen.
„Da bleibt uns ja noch ein bisschen Zeit“, sagte Sven und legte Miriam die Hand auf die Schulter. „Wie war dein Tag?“
„Interessanterweise haben wir heute beim Mittagessen über Tibet gesprochen. Das Wirken der Chinesen in Tibet wurde sehr konträr diskutiert. Dass das alte Tibet zerstört wurde, gefiel den meisten nicht.“
„Das geistige Tibet kann so leicht nicht zerstört werden“, kommentierte Sven.
„Ja, das tröstete die meisten bei uns auch.“
„Heute Morgen hab’ ich von schneebedeckten Bergen und Männern in roten Gewändern geträumt. Am gleichen Tag taucht unser alter Freund Andy aus den Bergen Tibets wieder auf!“
„Ja, wie ein U-Boot, dessen Kurs keiner mehr erahnen konnte“, äußerte Miriam in Gedanken versunken.
„Hey, Miriam, an ein U-Boot hab’ ich in dem Zusammenhang auch schon gedacht. Eine interessante Gedankenübertragung!“
„Wir schwingen halt gleich oder ähnlich, mein lieber Knuddelbär“, sagte Miriam. Dann fügte sie hinzu: „Ich bin schon ganz gespannt, wie das heute Abend wird, wenn Andy wieder auftaucht. Ob er sich sehr verändert hat?“
„Warten wir's ab.“

Pünktlich um 19.00 Uhr klingelte es. Miriam und Sven waren bestens vorbereitet.

Als sie öffneten, stand Bernd vor der Tür. Aus ihm sprudelten nur so die Worte der Bewunderung für den heimgekehrten Tibetreisenden. Andy habe sich sehr verändert. Sein Gesicht habe so einen strahlenden Ausdruck.

Nur so zum Spaß holte Miriam die Bohrmaschine aus dem Wandschrank mit der Bemerkung: „Gleich schrauben wir dich hier fest, damit du nicht abhebst.“

Da wurde Bernd schon etwas ruhiger.
Und Sven ergänzte: „Nur nicht die eigene Mitte verlieren, mein Lieber!“
Bei diesen Worten wurde Bernd sehr ernst.

Sven klopfte ihm liebevoll auf die Schulter. „Schon gut, war nicht so gemeint“, denn Sven wusste ja, dass Bernd immer noch keinen festen Boden unter den Füßen hatte, sich aber sehr bemühte, sein Leben neu zu ordnen.

Dann kamen nacheinander Thomas und Tanja, Biggi und Olaf, auch Iris kam mit dem kleinen Rodriguez. Iris ging es wieder etwas besser; sie war zur Ruhe gekommen und kümmerte sich immer liebevoller um ihren Sohn.

Wenige Minuten später kam dann der „Dalai Lama!“
Andy stand mit kurz geschorenem, blondem Haar und wie ein tibetischer Mönch gekleidet, mitten im Raum, als alle plötzlich wie auf ein unsichtbares Kommando ganz still wurden. Andy legte die Hände zusammen und verneigte sich einmal ganz tief.

Nach einer Phase des Schweigens begann Andy. „Ich schäme mich. Ich habe einige von euch verletzt, indem ich damals einfach so über Nacht verschwunden bin. So habe ich auch bei euch Leid ausgelöst.“ Nach diesen Worten verbeugte er sich noch tiefer. . . .