Umbau einer Kirche – der alte Pastor

. . . „Wissen Sie“, sagte Pastor Wiegand und lehnte sich in seinem Schaukelstuhl zurück, „dieser Herr Klingenhammer war auch schon hier wegen der Kapelle. Ich bin zwar schon alt, aber dumm bin ich deswegen nicht. Dieser Klingenhammer ist ein schlauer Fuchs. So verkalkt, dass ich die lokale Presse nicht mehr verfolgen könnte, bin ich noch nicht!“

Pastor Wiegand hatte Sven eingeladen, nachdem dieser ihm glaubhaft das Kaufinteresse einer guten Freundin an dem Grundstück vermittelt hatte.

Wiegand und Sven saßen im Kaminzimmer des Kirchenmannes.
„Wollen Sie ein Glas Sherry oder lieber einen guten Bordeaux,
Herr Jacobus? In meinem Schränkchen ist alles, was das Herz so begehrt.“ Wiegand schaute Sven mit verschmitzten Augen an.

„Danke, Herr Wiegand. Ich bleibe lieber bei Mineralwasser. Doch lassen Sie sich durch meine Abstinenz nicht einschränken.“

„Ja, ja, was das Herz so begehrt“, wiederholte Wiegand wie zu sich selbst und goss ein Glas feinsten Sherry ein. „Wer weiß, was das Herz der Menschen begehrt?“, brummelte er nachdenklich.

„Ja, Gott allein kennt das Herz des Menschen“, griff Sven die Worte Wiegands auf.
Da schaute dieser erstaunt unter seiner Brille hervor. „Welch Weisheit aus so jugendlichem Munde! – Glauben Sie selbst, was Sie da sagen?“
Nun wollte Sven weit ausholen, doch etwas drängte ihn, die Hände zu öffnen und mit einem ganz einfachen „Ja!“ zu antworten.
„Komisch, Herr Jacobus, ich glaube Ihnen das. Ich weiß zwar nicht warum. Irgendwie erinnern Sie mich an jemanden. An wen bloß …? – Ach ja!“
Da erzählte Pastor Wiegand die Geschichte eines jungen Russlanddeutschen, der Sven sehr ähnlich gesehen habe. Bei der ersten Begegnung mit ihm habe er etwas Außerordentliches wahrgenommen. Dieser junge Mann trug die Berufung zum Priester in sich. Das hatte Wiegand sofort gespürt. Er unterstützte ihn tatkräftig, gab ihm Deutschunterricht und öffnete ihm alle Türen, soweit er dies nur konnte.
„Er ist kein Priester geworden, Herr Jacobus. Wer weiß, für was es gut ist. Manchmal schreibt er mir heute noch. Er lebt in Wien und ist ein erfolgreicher Ingenieur geworden. Vor allem baut er Brücken. Na ja, Brücken bauen, ist das nicht das, was wir Priester tun sollten?“ Mit diesen Worten ging der alte Wiegand tief in sich und, wie zu sich selbst redend, fuhr er fort: „Wenn ich da mein Leben und meine Priesterlaufbahn so überdenke… oje, oje!“
Sven schwieg ganz bewusst.
„Nun habe ich nicht mehr viel zu verlieren. Sie sind noch jung. Da denkt man noch an die Karriere. Das Schöne in meinem Alter ist, dass man ungezwungen sagen kann, was man denkt.“
Pastor Wiegand richtete sich bei diesen Worten aus seinem Schaukelstuhl auf, um demonstrativ Rückgrat zu zeigen.
„Was glauben Sie, wie alt ich bin?“, kam schließlich die Frage. Doch ehe Sven leicht verlegen antworten konnte, kam auch schon die Antwort. „Vierundachtzig! Das hätten Sie wohl nicht gedacht, junger Mann!“
Sven zeigte sich beeindruckt, als der Pastor seine Rede weiter führte. „Alles Quatsch, ich bin ein alter Mann und ein bisschen verrückt, dazu noch eitel. In Wahrheit ist mit mir nicht mehr viel Staat zu machen! Wenn ich rausgehe, um die Blumen zu gießen, zwickt es überall. Manchmal falle ich hin. Keiner interessiert sich mehr für mich – vor allem diese edle Kirche nicht mehr. Da habe ich ausgedient. Na ja, unsere Päpste leben uns ja vor, wie das Rentenalter auszusehen hat. Da mach ich halt noch ein bisschen weiter. Sie sind heute hier, weil Sie irgendetwas von mir wollen – mir auch egal. Deshalb will ich Sie auch nicht beschwatzen mit meiner Lebensgeschichte und dem alten Kram.“

„Moment!“ Sven hob die Hand wie ein Stopschild. „Mich interessiert Ihre Geschichte. Selbst wenn Sie mir jetzt sagen, dass Sie die Kapelle morgen dem Klingenhammer geben oder gar nicht veräußern, möchte ich gerne Ihre Geschichte hören.“
Diese Worte ließen den alten Wiegand aufhorchen. „Also gut, ich glaube Ihnen. Ich weiß zwar nicht warum – aber egal.“
Dann begann der alte Pastor:
„1919 geboren erlebte ich den zweiten Weltkrieg hautnah. Damals war ich sehr kränklich und wurde nicht zum Militär eingezogen. Als Sohn einer Bergmannsfamilie wuchs ich im Kohlenpott in ärmlichen Verhältnissen auf. Ich hatte drei Brüder und drei Schwestern. Eine Schwester war am Kindstod gestorben.
Mein jüngerer Bruder Anton war unser Sonnenschein. Er malte gern und lachte immer. In seiner Nähe wurden die Herzen warm.
Sein größter Wunsch war es, einmal um die ganze Welt zu reisen. Wir hatten alle viel Freude mit ihm. Auch meine Mutter, die unter vielen Entbehrungen leiden musste, tröstete er immer wieder mit seiner lieben Art. Anton war sportlich und gesund. Er musste in diesen irrsinnigen Krieg und ist nicht mehr heimgekommen. Als die Nachricht von seinem Tod eintraf, wurde es beklemmend still in dem kleinen Bergmannshäuschen. Es wurde nie mehr so wie früher.
Wo war mein Bruder jetzt? Wieso konnte Gott zulassen, dass es ausgerechnet ihn erwischt hatte? Was war der Sinn des Ganzen, dieses Lebens? Ich war verzweifelt und wachte oft von vielen Fragen gequält in der Nacht auf – jahrelang.
Meine Mutter hatte ihr Lachen ganz verloren. Sie starb 1948 an einer Lungenentzündung.
Da auch ich an bronchialem Husten erkrankte, kam ich in ein Erholungsheim an der Nordsee. Ich hatte Sekretär gelernt, konnte aber wegen schlechter Gesundheit meinen Beruf eine zeitlang nicht ausüben. Das Erholungsheim war in der Hand eines kirchlichen Ordens. In der zweiten Woche meines sechswöchigen Aufenthaltes ging ich schließlich zur Beichte, um danach die heilige Kommunion zu empfangen. Doch dieses Beichtgespräch lief anders als geplant. Der Beichtvater Claudius schaute tief in mein Herz, und ich konnte all meinen aufgestauten Gefühlen freien Lauf lassen. Die Weite des Meeres hatten diesen Menschen geprägt. Er sagte, er habe nicht viel von Gott verstanden, aber er glaube, Gott sei offen und weit wie das Meer.“
„Ein schönes Bild“, warf Sven ein.
„Ja, ja, diese Worte klingen heute noch in meinen Ohren. Claudius hieß eigentlich Markus vor seiner Ordinierung und war Seemann, bevor er Pastor und Seelsorger wurde. Er half mir, wieder Vertrauen zu Gott zu finden. Ich wollte mich diesem Gott stellen. So besuchte ich eine weiterführende Schule, dann das Priester-Seminar und wurde schließlich Priester der katholischen Kirche Roms.
Claudius war mir auf diesem Weg anfangs wie ein Schutzpatron und geistiger Vater. Kurz vor seinem Heimgang schrieb er:
Lieber Sebastian, da du ja so oft krank bist, schau dir
den Gröning an. Der hilft dir. Dein Bruder Claudius.

In bestimmten Dingen war es so seine Art, sich kurz zu fassen.
Ein Monat später verstarb er – das war 1951.
Claudius hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er mit seiner
Kirche nicht mehr zufrieden war. Er erlebte Bruno Gröning im September 1949 in Rosenheim auf dem Traberhof.

Auch mir fielen als jungem Priester viele Dinge auf, die mich unzufrieden machten. Das Priesterseminar hatte die meisten meiner brennenden Fragen unbeantwortet gelassen.
Die Ehrfurcht mit denen die Menschen mir und meiner Amtswürde entgegentraten, war mir von Anfang an unangenehm, da ich in meinem Innersten spürte, wie wenig ich wusste. Dass die meisten Gemeindemitglieder mir beinahe blind folgten und ungeprüft vieles übernommen haben und nachbeteten, war mir schon verwunderlich. Das System der Kirche war unflexibel und allzu hart. So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt.
Claudius war mein einziger Halt. Nach seinem Tod folgte ich seinem Rat.
Im Frühjahr 1952 schließlich traf ich Bruno Gröning und hatte sogar die Gelegenheit über zwei Stunden ganz allein mit ihm zu sprechen. Was ich da erlebte, ließ mich nicht mehr los.
Der Glaube kann Berge versetzen, heute wie vor 2000 Jahren. Und Bruno Gröning bringt uns wieder in Verbindung mit Gottes heilender Kraft. Der Glaube an Gott erstrahlt dadurch hell und klar.“
„Sie haben Bruno Gröning persönlich kennen gelernt?“, fragte Sven und beugte sich gespannt nach vorne.
„Heute wird ja teilweise viel Kult um diesen einfachen, gütigen, geduldigen und bescheidenen Mann gemacht. Gröning selbst hat diesen Kult nie zugelassen. Er sah sich selbst vor allem als Werkzeug, als Diener Gottes. Dabei ging er einen sehr sanften und gleichzeitig gewaltigen Weg. Von diesem Mann ging eine Kraft aus, das können Sie sich nicht vorstellen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich neige nicht dazu, Menschen zu glorifizieren. Und auch damals schon war ich eher nüchtern, ja nach dem Verlust meines Bruders sogar verbittert.

Gröning begrüßte mich mit den Worten:
<Gott ist weit und offen wie das Meer.>

Diese Begrüßung allein traf mich schon mitten ins Herz. Wie kam er ausgerechnet auf diesen Satz, den Lieblingssatz von Pater Claudius?
Gröning – dieser Mann durchschaute die Menschen. Ich glaube fest, dass Gott ihm eine besondere Gabe verliehen hat. Ich ging damals zu ihm, einmal um ihn zu prüfen, zum zweiten um dem Ruf meines Freundes Claudius zu folgen und drittens, weil ich damals schon monatelang unter massiven bronchialen Beschwerden litt. Manchmal war es in der Nacht, als schnürte sich mir die Kehle zu. Es war unerträglich.“

Sven nippte an seinem Mineralwasser und hing an den Lippen des alten Pastors, der weiter erzählte: . .