Ein Bankdirektor lässt bitten

. . . Sven betrat das Bankgebäude und ging zielstrebig auf den Konto-Auszugsdrucker zu. Als er seinen Auszug in die Hand nahm, freute er sich riesig über den ausgeglichenen Kontostand.

Wow! Das war ein tolles Gefühl. Sven hing nicht an materiellen Dingen. Trotzdem war es ein großes Gefühl der Erleichterung, wieder so in die schwarzen Zahlen zu kommen. Er war schon stolz auf sich, weil er sich das durch ehrliche, gute Arbeit verdient hatte.

Fast wie hypnotisiert hing er noch an dem Kontoauszug und ging Richtung Ausgang. Da stieß er, weil er nicht acht gegeben hatte, mit einem Mann zusammen.
„O, tut mir leid“, sagte Sven entschuldigend.
„Schon gut, schon gut! Richten Sie ihren Blick im Leben nicht so sehr aufs Geld, junger Mann“, entgegnete ihm ein hoch gewachsener Mittfünfziger. „Darf ich Ihnen diese kleine Broschüre überreichen?“, fragte er interessiert.
Erst jetzt sah Sven, dass im Foyer der Bank Stellwände und ein Infotisch aufgestellt waren. Es handelte sich jedoch nicht um eine der üblichen Ausstellungen oder gar eine Werbeveranstaltung der Bank, sondern um die Initiative eines regionalen Selbsthilfevereins mit dem Namen ‚Eltern gegen Drogen e.V.’
‚Sehr seltsam, höchst ungewöhnlich’, dachte Sven, als der Mann weiter redete.
„Wie ich sehe, scheinen Sie sich etwas zu wundern, einen solchen Info-Stand in einer Bank vorzufinden!“
„Das muss ich zugeben“, gestand Sven.
„Mein Name ist Fellbach, Thomas Fellbach. Ich bin der Aufsichtsratsvorsitzende dieser Bank. Allerdings stehe ich hier an diesem Info-Stand als ganz gewöhnlicher, betroffener Vater“, erklärte Herr Fellbach.
Sven wollte sich gerade verabschieden, aber eine innere Stimme hielt ihn zurück. Nun verspürte er Steves Nähe und hörte folgende Mitteilung:
„Lieber Sven, schau dir diesen Mann genauer an. Kommt er dir nicht irgendwie bekannt vor? Du kennst ihn.“
Sven wurde stutzig. Ohne weiter nachzudenken, fragte er: „Kann es sein, dass wir uns irgendwoher kennen?“
„Kann sein“, erwiderte Herr Fellbach, „bis vor fünf Jahren war ich leitender Direktor dieser Bank. Hatten Sie einmal einen Kredit bei uns?“
Langsam dämmerte es Sven. Es kamen Bilder in ihm hoch – oder wurden sie ihm von Gott gezeigt? Er sah bunte Pillen; er sah Sabine, wie sie auf ihrer Geburtstagsparty mit einem Schweißausbruch zusammenbrach. Er sah Sabines Beerdigung. Und dort sah er auch diesen Mann. Es war Sabines Vater.
„Was ist mit Ihnen? Ist alles in Ordnung?“, fragte Herr Fellbach.
„Ja, ja, mit mir ist alles in Ordnung“, sagte Sven. „Ich hab’ grad’ ein paar schreckliche Dinge aus der Vergangenheit gesehen.“
„Sprechen Sie sich ruhig aus, junger Mann. Wir sind hier, um zu helfen“, Herr Fellbach öffnete freundlich seine Arme.
„Vielleicht ist das nicht so, wie Sie denken, Herr Fellbach“, sprach Sven seine Gedanken aus. „Können wir hier irgendwo ungestört sprechen?“
„Ja, selbstverständlich. Wenn Sie etwas auf dem Herzen haben… Ich hoffe allerdings, es handelt sich nicht um finanzielle Schwierigkeiten.“ Mit diesen Worten lud der Herr Fellbach Sven in einen Nebenraum ein.
„Setzen Sie sich doch. Was haben Sie auf dem Herzen?“, fragte Herr Fellbach.
„O, ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll“, suchte Sven nach den richtigen Worten.
„Schießen Sie schon los. Ich bin hart im Nehmen“, forderte Thomas Fellbach Sven auf.
„Gut“, begann Sven, „sind Sie der Vater von Sabine Fellbach?“
Jetzt war Herr Fellbach völlig überrascht. Er wurde ganz blass. Damit hatte er nicht gerechnet. „Ja, das ist richtig“, antwortete er mit leiser Stimme.
„Mein Name ist Sven Jacobus. Ich war ein Freund ihrer Tochter. Ich glaube, wir haben uns schon einmal an einem sehr traurigen Tag in ihrem Leben gesehen“, offenbarte sich Sven mit langsamen, einfühlsamen Worten. Er wollte gerade fortfahren, als er Steves Gedanken vernahm:
„Jetzt warte ab und schweige lieber. Lass dem Mann Zeit, seine Geschichte zu erzählen. Gott hat einen Plan. Vertraue, bete und sei wachsam.“
Eine Sekunde später betete Sven in Gedanken für die Situation. <Großer Gott, hilf uns. Lass viel Gutes hervorgehen aus dieser Begegnung, aus diesem unerwarteten Zusammentreffen. Lass deinen Segen reichlich fließen. Hilf mir, bitte hilf mir! Hilf diesem armen Mann! Im Namen Jesu Christi – Amen.>

Leider traf die Formulierung „armer Mann“ zu. Herr Fellbach war weißgrau im Gesicht geworden. Er wirkte wie gebrochen und war tief in sich versunken. Man sah förmlich, dass ein schrecklicher innerer Film in ihm ablief.
„Es tut mir leid, Herr Jacobus – ich weiß nicht, ob ich das Gespräch heute fortsetzen kann“.
Sven wollte gerade aufstehen, um zu gehen, als Herr Fellbach sich wieder etwas fing und mit Entschlossenheit sagte: „Bleiben Sie, bitte bleiben Sie. Ich kann nicht immer davor weglaufen. Vielleicht soll es so sein, dass Sie mir heute begegnen. Wer weiß!? Wollen Sie etwas trinken?“ Mit diesen Worten knöpfte Herr Fellbach sein Jacket auf und ging zu einer kleinen Bar in der Ecke des Raums.
„Ja, aber nur, wenn Sie auch etwas trinken“, antwortete Sven.
„Okay, okay! Ginger Ale, Perrier, Apfelschorle, was darf ich Ihnen anbieten?“, fragte Herr Fellbach.
„Eine Apfelschorle bitte.“
„Also, Herr Jacobus, ich habe viel durchgemacht nach dem Tod von Sabine. Ich bin wie rausgerissen worden aus meinem schönen Leben. Anfangs war ich voller Hass gegen die Freunde von Sabine. Diesen Bernd, der die Pillen auf Sabines Sarg geworfen hat, hätte ich auf der Stelle umbringen können. Es war ein aufschreiender Schmerz in mir, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Meiner Frau ging es ähnlich. Sie wurde allerdings völlig depressiv, fing an zu trinken und wurde von Medikamenten abhängig.
Ich habe in mehreren Zornesausbrüchen Teile unserer exklusiven Wohnung zerstört, bin nachts mit meinem Wagen wie ein Geistesgestörter durch die Gegend gefahren. Ich hatte zuvor in meinem Leben alles im Griff, dachte ich, und dann passierte so etwas.
Mehrere Monate konnte ich nicht mehr arbeiten. Zuerst habe ich allen anderen die Schuld gegeben, vor allem natürlich der Clique aus der Ronde. Wie Sie wissen, ist das Jugendzentrum ein halbes Jahr später geschlossen worden. Das war mein Werk. Ich wollte mich rächen. Ich war völlig außer mir.“ . . .

. . . „Meine unerbittlichen Versuche der Rache und dieser ganze Zorn haben wahrscheinlich nur weiteres Leid ausgelöst. Das ging soweit, dass ich diesen Bernd einmal beinah absichtlich mit dem Auto angefahren hätte, als er mir zufällig zehn Tage nach der Beerdigung über den Weg lief.“ . . .

. . . Ich habe das Wichtigste in meinem Leben verloren. Ich habe mich zu wenig um Sabine gekümmert, bin zuviel dem Geld hinterhergerannt.“
Plötzlich lief ihm ein Schauer über den Rücken, und er sagte: „Aber warum erzähl ich Ihnen das eigentlich alles? Wir kennen uns ja gar nicht. Interessiert Sie das alles überhaupt? Ich bitte Sie, das Erzählte höchst vertraulich zu behandeln.“

Sven schaute ihn nur an. In diesem Moment durchströmte Sven eine tiefe Ruhe. Er spürte beinah körperlich, wie seine Seele sich weitete, als er in ruhigem Ton antwortete. „Ich höre Ihnen gern zu. Auch mir haben einige Puzzle-Steine in dieser Geschichte gefehlt, die mir bis heute nachgeht.“

„Also gut, auch ich habe in den letzten Jahren gelernt, auf meine innere Stimme zu hören. Und die sagt mir, dass es sein soll, dass ich Ihnen meine Geschichte erzähle“, fuhr Herr Fellbach fort.

„Ich fühlte mich wie am Boden zerstört. Warum das alles? fragte ich mich. Ich wollte es dann einfach erzwingen. Mit allen Mitteln suchte ich nach einer Antwort. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Ein Bekannter erzählte mir, dass es die Möglichkeit gäbe, mit Verstorbenen in Verbindung zu kommen. Man könne über ein Medium mit Verstorbenen reden, wie es ihnen jetzt geht und dadurch Hilfe erhalten. Das klang so unglaublich, dass ich fast lauthals losgelacht hätte. Aber irgendwie blieb mir das Lachen im Hals stecken. Ich fühlte, dass sich hinter diesen Geschichten mehr verbirgt, als mancher vermutet. So stand mein Entschluss fest. Ich will es versuchen, ich will es wissen!

Schon zwei Tage später konnte ich an einem esoterischen Treffen teilnehmen. Dort kamen alle zwei Wochen etwa fünfzehn Personen zusammen. Anfangs war ich sehr aufgeregt und skeptisch, was sich da wohl ereignen würde. Ich hatte keinen blassen Schimmer über die Verbindungsmöglichkeiten vom Diesseits zum Jenseits. Es tat sich für mich eine neue Welt auf. Plötzlich kam wieder Farbe in mein Leben. Ich war Gott sehr dankbar für seine Hilfe."

"Aber sie haben nicht nur gute Erfahrungen gemacht, sondern auch sehr schmerzhafte", meldete sich Steve über Sven zu Wort. "Nach etwa einem Jahr haben sie diese Gruppe wieder verlassen. Die angeblichen Mitteilungen aus dem Jenseits entpuppten sich alle als wohlgemeinte, widersprüchliche Ratschläge irrender Menschen. Das hat ihnen das Vertrauen zu anderen Menschen zerstört. Und obwohl diese Gruppe eine magische Anziehungskraft ausstrahlte, haben sie sich schweren Herzens davon getrennt. Die ursprüngliche Hoffnung auf Hilfe war geplatzt. Jetzt fühlten sie sich vollends am Boden zerstört. Auch ein letzter, verzweifelter Hilferuf an Gott brachte nicht die erhoffte Befreiung."

Herr Fellbach zeigte grenzenloses Erstaunen. Diese klare, ruhige Sprache, die über Svens Stimme zu hören war, verblüffte ihn. So etwas hatte er noch nie erlebt. Außerdem stimmte alles bis ins letzte Detail. Zugleich verspürte er in seinem tiefsten Inneren, dass hier jemand anderer als Sven Jacobus zu ihm sprach. Und so hörte er mit innerem Verlangen weiter zu. . . .