Berufseinstieg

„Gierig erfasste sein Blick den Körper der jungen Frau auf dem Bürgersteig gegenüber.
„He, Emilio, konzentrier’ dich lieber hier auf die Hecke, sonst schneidest du dir noch in einen deiner schönen Finger“, rief Sven laut, um das Dröhnen der Motor-Heckenschere zu übertönen.
„Blut, das ist Leidenschaft. Für eine wilde Liebe bin ich bereit zu bluten“, schrie Emilio zurück. Vergeblich suchten seine Blicke wieder nach der jungen Rothaarigen. Doch die war schon weiter gegangen.

„Emilio, was liest du da?“, fragte Sven in der Frühstückspause seinen neuen Arbeitskollegen.
„Was interessiert dich das? Aber damit du es genau weißt: Das Leben des Casanova!“
Emilio war Portugiese italienischer Herkunft. Sein Vater war als Soldat in Angola bei Dschungelkämpfen gefallen. Seine Mutter schlug sich mit ihm lange Zeit so durch. Jetzt lebte er seit acht Jahren in Deutschland. Zuvor hatten sie, „Grande Mama“, wie er seine Mutter nannte, und er in Brasilien gelebt. Emilio war wortwörtlich mit allen Wassern gewaschen und stolz darauf.
„Was fasziniert dich so an diesem Weiberhelden?“, hakte Sven nach.
„Er hat alle geliebt und ist doch frei geblieben wie ein Vogel. Ja, er hat sie entehrt aber dennoch ein unvergleichliches Lebenswerk geschaffen. Sein Leben war ein einziges Kunstwerk voller Leidenschaft und Ironie.“
„Ich halte es da eher mit dem Grundsatz: „Das Glück liegt in einem Garten“, entgegnete Sven.
„Ja, Monsieur Sven, diesen Spruch kannst du gleich heute Abend dem Chef als neuen Werbeslogan verkaufen. Ich seh’s schon bildlich vor mir auf jedem dieser grünen Laster: „Das Glück liegt in einem Garten. – Und dieses Glück bringt euch Landschaftsgärtnerei Hellwanger & Nägele – gratuliere! Grandioser Einfall!“
Sven wusste nicht, ob es sich lohnte, mit diesem Tausendsassa
ernsthaft weiter zu diskutieren.
„Sei bitte nicht beleidigt, Sven. Verstumme nicht und schau mit
Barmherzigkeit auf mich“, sagte Emilio und verbeugte sich tief vor Sven.
Das sah schon komisch aus, denn in den grünen Gärtnerklamotten mit Sicherheitsschuhen und grasgrünem Teint im Gesicht sah dies alles andere als elegant aus.
„Jetzt im Ernst, wie meinst du das, das Glück liegt in einem Garten?“
„Na ja, die Gärtnerei habe ich dabei nur teilweise damit gemeint. Ich verstehe es so, dass das wahre Glück in der Begrenzung liegt, dass klare Grenzen und ein solides, moralisches Leben Grundlage für das Glück sind.“
„Oje, oje, was bist denn du für einer?“, bemerkte Emilio mit erstaunter Miene.
„Jetzt nicht persönlich werden!“, konterte Sven. „Das Leben dieses Casanovas hat dich wohl völlig gepackt, Emilio!“
„Ich sehe in diesem Buch, in jeder Zeile, auch mein Leben“, verteidigte sich Emilio temperamentvoll.
„Emilio, kennt Casanova das Glück oder jagt er sein ganzes Leben lang, einem wilden Tiere gleich, nur dem vermeintlichen Schatten des Glückes hinterher?“, ließ sich Sven vernehmen.
„Liegt nicht gerade in dieser Jagd unsere eigentliche Berufung und vor allem in dem Reiz, in berauschenden Augenblicken das Glück zu erhaschen? Ist denn nicht alles vergänglich – warum also nicht jeden Sinnenreiz voll ausschöpfen? Wer weiß, was kommt?“, erwiderte Emilio empört.
Für einen Moment dachte Sven an Miriam und an ihr gemeinsames Glück. Wie würde Emilio wohl das Glück anderer Menschen achten.
„Lieber Emilio, ich glaube nicht, dass der Mensch sich nur nach körperlicher Liebe orientieren sollte. Es ruhen viele Begabungen in ihm, nach Höherem zu streben.“
„O, hier spricht der Romantiker“, bemerkte Emilio mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ist es nicht längst erwiesen, dass die so genannte Krone der Schöpfung, der Mensch, sich auf der Erde wie der größte Schädling aller Zeiten verhält?“ . . .

. . .
„Ist es denn nicht dieser Gott, der alles ausradiert, was ihm nicht gefällt?“, wollte Emilio nun ganz genau wissen.
„Nein!“
„Woher nimmst du diese beinah überzeugende Sicherheit bei deiner Aussage? Ist Monsieur Sven ein Prophet?“
Sven schwieg nun ganz bewusst.
„Komm, Prophet, sag dem armen Emilio, ob es einen dritten Weltkrieg geben wird oder nicht? Lass mich nicht dumm sterben?“
„Jesus ist für alle gestorben. Er ist der Erlöser aller Menschen. Auch dir, Emilio, reicht er seine verzeihende, helfende Hand“, antwortete Sven.
Emilio zuckte zusammen. Diese Antwort ging ihm wie ein Stich ins Herz. Das hatte er nicht erwartet. „Aber ich kann nicht glauben, dass Jesus irgend ein Interesse daran hat, wie es mir geht. Ich habe mein Leben nie christlich gelebt.“
Jesus selbst sagte: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Ich bin nicht für die Gesunden gekommen, sondern für die Kranken. Diese brauchen den Arzt.“
Emilio seufzte. „Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber wie soll das funktionieren. Wie kann Jesus mir helfen?“ Emilio fühlte dieses Chaos in sich und war sehr bedrückt.
In ruhigem Ton erzählte Sven weiter. „Jesus ist zwar gekreuzigt worden, aber er lebt weiter. Vom Jenseits möchte er so gerne helfend in unser Erdenleben einwirken. Und so hat seine Zusage noch heute Gültigkeit. „Kommet alle her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“
Emilio sank in sich zusammen und weinte aus tiefster Seele.
Die beiden jungen Männer in den grünen Overalls saßen hinter einer Hecke in einem Vorgarten, doch in diesem Moment nahmen sie die Welt um sich herum nicht mehr wahr.
„Sven, hilf mir, hilf mir“, mit diesen Worten hielt sich Emilio ganz fest an Sven und zitterte am ganzen Körper. „Ich wollte stark sein, es allen zeigen, dass ich ein Held bin. Ich bin soo allein …“
Emilio jammerte verhalten vor sich hin. Dies hatte sich bei ihm schon lange angestaut. Seine ganze Seele, sein ganzes Wesen bebte.
„Jesus lebt, und er ist dir ganz nah. Er will dich halten und trösten“, sprach Sven liebevoll.
„O, wie gern würd’ ich das glauben! Wie gern würd’ ich das glauben. O lieber Gott, bitte verzeih mir, bitte hilf mir!“ Emilio war vollkommen außer sich.
„Jetzt beruhige dich langsam. Heute hast du dein Herz Gott geöffnet. Er wird dir helfen. Hab’ Geduld. Das kann der Anfang eines neuen Lebens sein!“
Ganz allmählich beruhigte sich Emilio wieder. . . .

. . . Als er sich wieder aufrichtete und die Tränen abwischte, sagte er: „Danke, Sven, das werd’ ich dir nie vergessen, Kumpel.“
Und als er wieder fest auf den Beinen stand, nahm er die Biographie Casanovas, schritt auf die nahe stehende Mülltonne zu und warf sie mit den Worten hinein: „Casanova, ich wünsche dir alles Gute.“ . . .

. . . Am nächsten Morgen kam Emilio ganz aufgeregt auf Sven zu. Im Beisein der anderen hielt er sich noch zurück. Dann aber, als beide gemeinsam mit dem grünen Kleinlaster Richtung Baustelle unterwegs waren, legte er los.
Sven war noch etwas schläfrig, es war schließlich erst 7.20 Uhr.
„Du, Sven, letzte Nacht hatte ich einen Traum, der lässt mich nicht mehr los. So etwas habe ich noch nie geträumt.“
„Na, dann erzähl’ mal“, sagte Sven gähnend.
„He, schön wach bleiben. Ich will doch nicht, dass mein neues Leben jetzt schon endet“. Emilio flachste. „Steht denn nicht in der Bibel ‚wachet und betet’. Das müsstest du doch eigentlich wissen.“
„Komm schon, jetzt erzähl mal deinen Traum.“
„O. k., ich war da in so einer ganz abartigen Landschaft unterwegs. Es war irgendwie ein bisschen karg. Jedenfalls bin ich da so rumgelaufen und hab eine ganze Menge Brücken gesehen. Überall nur Brücken. Kreuz und quer, ein verwirrendes Durcheinander an Brücken, so weit das Auge reichte. Überall liefen Leute rum. Alle suchten irgendwas. Also gingen sie mal über diese Brücke, dann wieder über eine andere, dann sind sie mal wieder über eine andere Brücke gegangen. So gingen sie kreuz und quer. Mich hat das ganz verwirrt. Es war auch irgendwie so eine Unruhe, weil sie alle nach dem richtigen Weg suchten.
Was glaubst du, Sven, was das bedeuten soll? . . .