Der Poltergeist

Heute war schulfrei. Hastig aß Sven sein Frühstück. Er konnte es kaum erwarten, zu seinem Apfelbaum zu kommen. Was mag er mir nur für eine Geschichte erzählen wollen? dachte er.

"Hallo! Lieber Apfelbaum. Da bin ich wieder!" Sven setzte sich in seinen Sessel und sah gespannt in das Geäst.

"Ich freue mich, daß du heute so früh hier bist", begrüßte ihn der Apfelbaum. In den Ästen begann es zu raunen, und leise bewegte sich jedes einzelne Blatt. "Hör zu", sagte der Apfelbaum, "es ist die Geschichte eines Geizhalses, der in die Verbannung geschickt wurde."
Sven stützte seine Ellbogen auf die Knie und legte sein Kinn auf die Hände. Kein Wort wollte er verpassen.

"Es lebte einmal ein kleiner Junge", begann der Apfelbaum. "Seine Eltern waren arm und konnten ihrem Sohn nur ein geringes Taschengeld geben. Sparen machte ihm aber ganz und gar keine Freude, denn sein unbändiger Wunsch war, reich zu sein, sehr, sehr reich, um sich alles leisten zu können.
Von diesem Gedanken war er so besessen, daß er anfing, seinen Mitschülern Geld zu stehlen, nur ganz wenig, da zehn Pfennige, dort zehn Pfennige. Keiner merkte diese kleinen Beträge, und so stahl er sich eine Menge Taschengeld zusammen. Als er erwachsen war, gründete er ein Unternehmen, also ein Geschäft, und er verstand es, auf die gleiche Weise seine Kunden zu betrügen. Sein Ziel war es, reich zu werden, wie, war ihm egal. - Und tatsächlich. Sein Vermögen wurde immer größer, und dieses Vermögen liebte er über alles. Er baute sich ein prächtiges Haus, kaufte sich teure Bilder und echte Teppiche. Je mehr er besaß, desto geiziger wurde er.
Er heiratete und bekam zwei Söhne und eine Tochter. Als diese größer wurden, litten sie sehr unter dem Geiz des Vaters. Seine Frau ließ sich scheiden, und seine Familie brach auseinander. Das machte dem Mann nichts aus, er hatte ja sein innig geliebtes Geld .

Nun war er alt, und ein Engel, der ihn ins Jenseits begleiten sollte, klopfte bei ihm an. Als er auf dem Sterbebett lag, war er so schwach, daß er sich kaum noch rühren konnte. Seine beiden Söhne und die Tochter waren bei ihm.
Sie wollten den Vater - obwohl er so lieblos im Leben war - im Sterben nicht allein lassen. Doch dem Vater schien das gar nicht so recht zu sein. Er öffnete noch einmal die Augen und flüsterte voller Haß: "Weg, mit euch. Ihr wollt nur mein Geld - Geld - Geld..."
Dann tat er einen tiefen Seufzer und ward heimgegangen.
Doch von "Heimgehen" war gar keine Rede. Sein Geist war frei von allem Materiellen und marschierte als erstes in sein kostbares Haus. Er strich mit seinen Geisthänden über die teuren Möbel, die Bilder und die Teppiche, er ging zu seinem Schreibtisch, las in seinen Wertpapieren und zählte das Geld, was noch im Safe lag. Mein - mein - mein - dachte er...

Das Erbe war an die Söhne und an die Tochter verteilt, und das Haus wollten sie verkaufen, denn keiner hatte Lust, durch das Haus an den geizigen Vater erinnert zu werden.
Als die Möbelträger kamen und alles hinaustrugen, hängte er sich an die Männer schlug ihnen auf den Kopf, zerrte an den Teppichen und Bildern und schrie wütend: "Das ist meins - meins - meins!" aber niemand konnte ihn ja hören, geschweige denn sehen. Es war die "Hölle" für den geizigen Vater - Geist.

Ein junges, liebes Ehepaar bezog das Haus. Sie renovierten es, legten neue Teppichböden und klebten neue Tapeten an die Wände. Der Geist tobte, nichts wollte er zulassen. Aber es half ihm nichts. Durch diese Menschen kamen neue Gedanken in die Räume, und der Geist mußte sich zurückziehen.

Er ging auf den Speicher. Dort standen noch einige Gegenstände, die einst ihm gehört hatten, nichts wertvolles, aber hier fühlte er sich wohler. Er war jedoch so von seiner Geldgier durchzogen, daß er anfing zu toben. Erst zaghaft, dann immer lauter begann er durch den Speicher zu rennen, warf mit Türen, schlug die Dachfenster zu, so daß die Bewohner des Hauses aufmerksam wurden.

Sie sollten Angst bekommen! - Aber . . .

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