Der Apfelbaum, der sprechen kann

Es schlug sieben.
Sven saß mit seinen Eltern am Frühstückstisch. Herr Jacobus, Svens Vater, legte die Zeitung zur Seite und schaute auf die Uhr, während die Mutter Kaffee nachgoß.
"Noch zehn Minuten, dann geht's los," sagte der Vater zu Sven. "Ich muß noch schnell etwas für einen Kollegen besorgen, dann bringe ich dich in die Schule." Herr Jacobus war Abteilungsleiter in einem großen Betrieb und fühlte sich verantwortlich für alle seine Mitarbeiter.
"Ja, - ja", sagte Sven abwesend und steckte den Rest seines Brötchens in den Mund.

"Sag mal, Paps, gibt's eigentlich einen Vogelhimmel?"
Die Mutter lachte.
"Auf was für Gedanken kommst du bloß am frühen Morgen!"
"Nein, ich meine es ernst", beharrte Sven, "gibt es einen Vogelhimmel?"
Der Vater räusperte sich verlegen.
"Na, ja, - sicher, einen Himmel, ja, den gibt's sicher, - einen Vogelhimmel, mm, - das weiß ich nicht so genau, vielleicht", und um das für ihn peinliche Gespräch abzubrechen, sagte er entschlossen:
"Doch, ich glaube, es gibt einen, - aber darüber können wir uns ein andermal unterhalten, - komm, wir müssen jetzt gehen."

Diese Antwort hatte Sven jedoch überhaupt nicht befriedigt. Warum geben die Erwachsenen uns Kindern immer so dumme Antworten, wenn sie nicht weiterwissen, dachte Sven. Wenn ich bloß jemanden hätte, den ich fragen könnte. - Aber dieser Jemand stand schon buchstäblich vor der Tür.

Als Sven aus der Schule kam, war sein erster Gang zu Amelis Grab unter dem Apfelbaum.

"Ich möchte nur wissen, ob es einen Vogelhimmel gibt", murmelte Sven vor sich hin, "Paps weiß es bestimmt nicht."
In diesem Moment geschah etwas Seltsames. Als ob ein Windhauch durch den Apfelbaum ging, bewegten sich die Äste, und plötzlich taumelten viele, viele zartrosa Blüten auf die Erde und bedeckten das kleine Vogelgrab. Sven schaute erstaunt hoch. Noch leise bewegten sich die Blätter. Man mußte genau hinschauen, um es deutlich erkennen zu können. Hörte er nicht auch ein leises Säuseln und Raunen? Was war das? Hatte da nicht jemand zu ihm gesprochen? Sven wurde es unheimlich. Am liebsten wäre er fortgelaufen, aber er konnte nicht. Wie angewurzelt blieb er stehen.

Sven war ein Junge wie jeder andere, vielleicht ein wenig feinfühliger. Zum Herumtollen war er immer aufgelegt, und Fußballspielen war seine große Leidenschaft. Aber jetzt...?
Gespannt hörte er in das Geäst.

"Sss - sss - sssven, du brauchst keine Angst zu haben. Ameli hat mir von dir erzählt. Es hat mich sehr gefreut, daß du sie gerade in meiner Nähe begraben hast. Ich möchte dein Freund werden, Sven, ich - der Apfelbaum.

In der Erde sind meine Wurzeln, meine Krone ist zum Himmel geöffnet,
und ich werde gespeist von dem Licht, das von oben her kommt.

Ich kann dir deshalb viel erzählen."

Ein Apfelbaum, der sprechen kann, wunderte sich Sven. Kaum zu glauben.

"Du hast dich doch sicherlich schon gefragt, wieso du dich mit deiner Ameli unterhalten konntest", raunte der Apfelbaum. "Siehst du! Manche Kinder können das noch. Sie verstehen die Sprache der Tiere, der Pflanzen, der Steine - die Sprache der Natur. Erwachsene, die ein sehr gutes Herz haben, die können das auch. Sie sind besonders feinfühlig. Dies ist eine Naturbegabung."

Sven packte die Neugier. Ob da nicht doch jemand im Baum saß, der ihn narrte? Er angelte sich den nächsten Ast, machte einen Klimmzug, stützte sich an dem Stamm ab, und schon war er auf dem Baum. Prüfend sah er sich um. Nichts. Nichts, was ihn foppen konnte. Und als er noch so unschlüssig im Geäst hing, erblickte er eine Gabelung, die aussah, wie ein bequemer Sessel. Dahinein setzte sich Sven. Umgeben von tausend Blüten fühlte er sich geborgen. Hier konnte er nachdenken. Am liebsten hätte er seinen Vater gefragt, ob Apfelbäume sprechen könnten. Aber er würde Sven wahrscheinlich auslachen oder wieder so drumherum reden, wie heute morgen mit dem Vogelhimmel. Und wenn Sven etwas nicht mochte, dann waren es Dinge, die die Erwachsenen immer verheimlichten oder eben - so drumherum redeten, weil sie es selber nicht wußten und sich auch gar keine Gedanken machten. . . .

  • zurück